Jahrzehntelang hatte ich das Gefühl, trotz harter Arbeit und Klettertour die Karriereleiter hinauf, nie gut genug zu sein. Nicht gut genug, nicht perfekt genug, nicht tough genug. Immer hatte ich Sorge, dass jemand meine Schwachstellen entdecken könnte und ich die Karriereleiter genauso schnell wieder herunterfallen könnte, wie ich sie erklommen hatte. Ich lebte nach dem Motto: du musst alles alleine schaffen, jemanden um Hilfe zu bitten, oder zu sagen: Das kann/weiß ich nicht, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Das bescherte mir im beruflichen Umfeld den Titel „Mère supérieure“, im privaten Bereich Beziehungsprobleme, da ich meine feminine Seite nicht auslebte. Ich konnte immer klar formulieren, was ich wollte, nie jedoch, was ich brauchte. Etwas zu brauchen setzte ich mit dem Wort „Schwäche“ gleich. Das wurde mir tatsächlich erst während meiner Ausbildung bewusst.
Ein altes Skript (damals kannte ich natürlich diese Mechanismen noch nicht) spukte in meinem Kopf herum. „Ach, das Kind, oh je, aus dem wird nie was, das Träumerle.“ Im mathematischen/naturwissenschaftlichen Bereich des Gymnasiums, den Zweig, den ich fatalerweise gewählt hatte (daddy’s girl) war ich eine Niete. Immer hatte ich meine Nase in einem Buch, sogar in der Schule las ich heimlich während des Unterrichts, zuhause blockierte ich lesend stundenlang die Toilette. Meine Interessen waren von klein auf musischer und humanistischer Natur: Literatur, Kunst, Psychologie, Philosophie. Meine Eltern schickten mich auf einen anderen Weg: Eine solide wirtschaftliche Ausbildung sollte das Kind haben, „das Leben ist hart, dir werden keine Geschenke gemacht, du musst hart sein, Glück gibt es nicht.“
Sie wollten das Beste für mich, allerdings wollten sie für mich, was sie selbst für das Beste hielten. Ich hielt mich an den vorgeschriebenen Weg: Business school und nach einigen Testrunden in verschiedenen Branchen landete ich in der Finanzbranche. Daddy’s girl. Und war sogar erfolgreich. Wieso sogar? Rückblickend kann ich sagen: Das war nicht im Geringsten meine Branche. Aber ich wollte mir selbst und dem Rest der Welt beweisen, dass ich keine Niete, kein Träumerle war, sondern etwas erreichen konnte.
Als meine Mutter starb, kurz darauf meine andere Mutter, und meine älteste Freundin aus Kindertagen sich das Leben nahm, hielt ich die Luft an. Und atmete erst wieder aus, als mir klar wurde, dass ich so nicht weitermachen wollte. Ich fühlte mich nicht ausgebrannt, aber leer, unausgefüllt. Mir wurde zum ersten Mal wahrhaftig bewusst, dass das Leben nicht immer hart, aber verdammt kurz war. Ich hatte zulange gegen mein Skript angekämpft statt mich zu fragen, ob das, was ich beruflich machte, mir auch wirklich Freude bereitete. Ich war es leid, zu kämpfen, wollte mehr Leichtigkeit, mehr Sinnhaftigkeit, mehr meiner Selbst. Ich erinnerte mich an meine alten Lieben: Literatur, Philosophie, Psychologie. Und gönnte mir auf meine alten Tage nochmals eine neue Ausbildung, eine 2-jährige Coachingausbildung in Konstanz und viele Zusatzausbildungen (um mein neues Fach auch wirklich perfekt zu beherrschen, natürlich). Heute habe ich keinen Beruf, sondern eine Berufung. Eine Berufung, die mich erfüllt und mir jeden Tag das Gefühl gibt, etwas Wahrhaftiges und Sinnvolles zu tun.